Pharao der Unterdrückung
Das 2. Buch Mose berichtet, dass die Israeliten nach dem Tod Jakobs und seiner Brüder gediehen, sich vermehrten und zahlreich wurden. Dann:
2 Mos 1:8 Da trat ein neuer König die Herrschaft über Ägypten an, der Josef nicht mehr kannte.
Der neue Pharao hatte, anders als Josefs freundlicher Schirmherr, nichts für die Israeliten übrig, sondern fürchteten sie als Gefahrenquelle im Land. Er griff hart durch.
Falls der Pharao Josefs hier einer der frühen Hyksoskönige gewesen ist, dann ist es ziemlich klar, was hier geschehen ist...
Die Hyksos beherrschten nicht Ägypten vollständig. Ihre Macht war im Delta gesammelt, während eingeborene Truppen im Süden des Landes Landesteile fest im Griff hatten und mit der Zeit Kraft sammelten.
Etwa 800 km stromaufwärts lag eine Stadt, die die Griechen später Theben nennen sollten. Das war die bedeutendste Stadt Oberägyptens. Während des Alten Reiches und des Mittleren Reiches wurde sie von Memphis und den Städten im Delta überschattet. Doch in den Zeiten des Zerfalls regierten Dynastien in Theben über ein recht unabhängiges Süden. Die 11. Dynastie regierte zum Beispiel in den Jahren vor dem Mittleren Reich von Theben aus.
Als die Hyksos Ägypten eroberten, bekam Theben eine neue Chance. Während der gesamten Hyksos-Zeit hielt Theben eine unsichere Unabhängigkeit aufrecht und lernte allmählich die neuen Kriegstechniken (Pferde, Streitwagen, verbesserter Bogen, Rüstungen), die sie früher nicht gekannt hatten, und mit denen die Hyksos Ägypten erobert hatten.
Etwa 1250 kam Ahmose, der erste König einer neuen Dynastie, der 18., zur Macht in Theben und griff die Hyksos heftig an, die sich inzwischen eingelebt hatten und etwas friedlicher geworden waren. Ahmose besiegte sie, beseitigte ihre Macht und machte sich selber zum König über ganz Ägypten. Damit hatte man wieder eine einheimische Dynastie nach 150 Jahren Fremdherrschaft.
Ahmose kann durchaus der "neue König" gewesen sein, der "Josef nicht mehr kannte". Als Vertreter der wiedererwachenden Ägypter, würde er nichts als Misstrauen und Widerwillen gegen die Israeliten verspüren, die von den Hyksos hineingebracht worden waren, und die man als Rest von ihnen ansehen konnte. Sollte jemals ein neuer Angriff aus Asien erfolgen, wäre zu befürchten, dass die Israeliten sich auf Seiten der Angreifer schlagen würden, denen sie ja durch Sprache und Kultur verwandt waren.
Die Herrschaft Ahmoses hat vielleicht nicht die Entwicklung zum Ende getrieben. Solche Entwicklungen werden aber zu Selbstläufern. Werden die Israeliten als zweitklassige Bürger behandelt und als verdächtige Untergebene, dann entsteht eine allgemeine Abneigung gegen sie, die die Unterdrückung verstärkt. So entwickelt sich leicht eine Ausgrenzung, die in Sklaverei enden kann.
2 Mos 1:13 Da zwangen die Ägypter die Söhne Israel mit Gewalt zur Arbeit
2 Mos 1:14 und machten ihnen das Leben bitter durch harte Arbeit...
Unter einem bestimmten Pharao (der nicht Ahmose sein muss) erreichte die Versklavung einen Gipfel. Dieser Pharao ist der "Pharao der Unterdrückung".
Wenn wir herausfinden wollen, wer dieser Pharao der Unterdrückung sein kann, müssen wir in die ägyptische Geschichte schauen.
Nach der Zeit Ahmoses fing für die Ägypter mit den neuen Kriegstechniken, die sie von den Hyksos gelernt hatten, die militärisch erfolgreichste Zeit ihrer Geschichte an. Diese Zeit wird als "Neues Reich" bezeichnet. Die Grenzen wurden bis weit in Asien hinein verschoben.
Die großen militärischen Ereignisse, die zur Gründung und Festigung des Neuen Reiches führten, fanden alle in der Zeit der Versklavung in Ägypten statt. Es ist kein Wort davon in der Bibel zu lesen. Die Verfasser befassten sich ausschließlich mit dem Schicksal der Israeliten.
Unter Thutmose I (1525-08 v. Chr.) und Thutmose III (1490-36 v. Chr.), den man auch "Thutmose der Große" nennt, durchzogen ägyptische Armeen den gesamten Fruchtbaren Halbmond. In 1479 v. Chr. gewann Thutmose III eine große Schlacht bei Megiddo, einer Stadt im Norden Kanaans, etwa 80 km nördlich von Jerusalem. Damit wurde ganz Kanaan und das Land fast bis Euphrat und Tigris, ägyptisch. Unter Amenhotep III (1397-70 v. Chr.) genoss das Reich einen anhaltenden Wohlstand und Erfolg.
Mit dem Sohn von Amenhotep II, Amenhotep IV (1370-53 v. Chr.) setzte ein Niedergang ein. Dieser neue König war ein religiöser Umstürzler. In einem Land zahlreicher Götter erkannte er nur einen einzigen Gott an, Aton, der in Gestalt der Sonne vertreten wurde. Da sein Name Amenhotep die Bedeutung "Amon ist zufrieden" bedeutete und damit den Gott Amon huldigte, verwarf er diesen Namen als heidnisch und nannte sich fortan Echnaton ("Aton ist zufrieden"). Er gründete eine neue Hauptstadt in einer Stadt, die er Akhetaton ("Atons Blickfeld") nannte, die etwa mitten zwischen Theben und dem Delta lag. An dieser Stelle liegt heute Tell el Amarna.
Echnaton versuchte, mit Gewalt den Glauben an einen einzige Gott in ganz Ägypten durchzusetzen, doch die alten Priester kämpften entschieden dagegen und sie hatten die ganzen konservativen Ägypter auf ihrer Seite. Echnaton starb früh nach einer Herrschaft von nur 17 Jahren. Danach geriet seine Religion in Vergessenheit. Unter seinem jungen Schwiegersohn Tutanhkaton (1325-43 v. Chr.) gewann die alte Priesterschaft einen volkommenen Sieg und er wurde gezwungen, seinen Namen in Tutankhamon zu verändern.
Während Echnaton mit seiner religiösen Umgestaltung beschäftigt war, waren die asiatischen Teile des Reiches unter ständigem Angriff. Im Jahr 1887 n. Chr. fand man in den Ruinen von Akhetaton eine große Menge Briefe von den Statthaltern in Asien. Es ist eine traurige Geschichte von anhaltenden Einfällen von Norden und Osten und erfolglosen Bitten um Unterstützung von Echnaton, der die Plünderer entweder nicht abwehren konnte oder nicht wollte.
Nun entwickelte sich aber im Norden ein schrecklicher Feind. Das alte Hethiterreich (siehe oben) war von Thutmose III geschwächt und unschädlich gemacht worden. Doch nach dem Tod dieses Eroberers kamen die Hethiter zum zweiten Mal zu Kräften und Bildeten ihr Neues Reich. In Echnatons Zeit saß der größte der Hethiterkönige Schubbiluliuma auf dem Thron. Er eroberte das Reich Mitanni und verschob die ägyptische Grenze zurück nach Kanaan selbst.
Nach Tutankhamons Tod (es war sein ungeöffnetes Grab, das man in 1922 n. Chr. entdeckte, siehe oben) ging es rasch abwärts mit der 18. Dynastie und sie verschwand. Eine neue Familie folgte auf dem Thron. Der erste Pharao wurde in 1304 v. Chr. Ramses I. Unter ihm erlebte Ägypten eine erneute Blütezeit. Diese Dynastie erreichte ihren Höhepunkt unter Ramses II ("Ramses der Große"), dessen lange Regierungszeit von 1290-1223 v. Chr. dauerte. Während dieser Zeit kam Ägypten in offenen Streit mit den Hethiten. In 1288 v. Chr. wurde eine große Schlacht zwischen den zwei Reichen in Kadesch, etwa 130 km nördlich von Damaskus ausgefochten. Das Ergebnis war unentschieden wie der gesamte Krieg auch. Die Hethiter konnten die Eroberungen des vorigen Jahrhunderts behalten. Die Anstrengung im Kampf gegen Ägypten hatte aber das Hethitenreich entscheidend geschwächt und Ägypten überbelastet.
Ramses II ist der berühmteste aller Pharaonen. Seine lange Regierungszeit gab ihm reichlich Gelegenheit, all seinen großen Ideen nachzugehen. Er verschönerte Theben, das seinen Höhepunkt während dieser Zeit erlebte. Er verteilte Riesenstatuen von sich selber in ganz Ägypten, mit selbstverherrlichenden Inschriften. Man berichtet, dass er 160 Kinder mit zahlreichen Frauen und Geliebten hatte.
Ramses trug erheblich zu der späteren "Sesostris"-Legende bei. Als 800 Jahre später der griechische Historiker Herodot das uralte Land besuchte, erzählten die Priester und Buchhändler nur allzu gerne von der heldenhaften Vergangenheit Ägyptens, mit einpaar Verbesserungen hier und da. Zur Zeit Herodots war Ägypten weit heruntergekommen und war von zwei verschiedenen asiatischen Reichen erobert worden, dem Assyrischen und dem Persischen. Es passte zum Stolz Ägyptens, sich an eine Zeit zu erinnern, die nunmehr im Nebel der fernen Vergangenheit verloren war, als Ägypten selbst das Weltreich war.
Der Name, den Herodot für den Eroberer nennt, ist Sesostris, der Name dreier Pharaos aus der 12. Dynastie, von denen der erste vielleicht Abrahams Pharao gewesen sein kann (siehe oben). Das Mittlere Reich hatte Ägyptens Grenzen bis nach Äthiopien verschoben. Diese Taten wurden mit den noch größeren Thutmoses III und Ramses's II vermischt. Dieses Ganze wurde zu einem Punkt gesteigert, wo "Sesostris" ganz Äthiopien eroberte, Asien bis weit hinter Euphrat besiegte, durch Kleinasien marchierte und sogar die Ebenen hinter dem Schwarzen Meer unterwarf.
Nach Ramses II gab es keine Grundlage für einen Traum von einem Sesostris mehr. Ägypten verfiel und setzte in der gesamten biblischen Zeit den Verfall fort.
Wo und wann finden wir dann den Pharao der Unterdrückung?
Ekhnaton ist eine ansprechende Möglichkeit. Er war einzigartig in der langen Reihe der Pharaonen. Ein Aufrührer, ein Vernichter von Gepflogenheiten, ein Monotheist. Könnte er der freundliche Pharao sein, der den monotheistischen Jakob und seine Söhne in Ägypten willkommen hieß? Das ist leider recht unwahrscheinlich. Echnatons Regierungszeit liegt dafür viel zu spät.
Es gibt eine andere Möglichkeit. Könnte Echnaton am Ende der Sklaverei statt am Anfang regiert haben? Hat er vielleicht seinen Monotheismus von Mose gelernt, oder, wie andere vorschlagen, hat Mose von Echnaton gelernt?
Könnte es sein, dass Echnatons Vater, Amenhotep III, der strenge Pharao der Unterdrückung war, und dass es unter Echnatons schwacher und mit sich selbst beschäftigten Regierung war, dass die Israeliten Ägypten verließen? Dafür sprechen Berichte in Tell el Amarna von Kanaan über Kämpfe mit Wüstenstämmen. Könnten das nicht die Israeliten sein, die jetzt aus Ägypten heraus waren und dabei waren, Kanaan zu erobern?
Das ist aus mehreren Gründen unwahrscheinlich. Erstens ist die Regierungszeit Echnatons zu früh für die israelitische Eroberung Kanaans. Eine so frühe Zeit passt nicht mit späteren Ereignissen in der Bibel, von denen die Zeit bekannt ist.
Das bedeutet nicht, dass Kanaan während der Regierungszeit Echnatons nicht unter Angriff von Wüstenstammen stand. Es ist nur wahrscheinlicher, dass diese Angriffe von Stämmen, die am Rande der Grenzen von Kanaan sesshaft waren, stammten (die wegen der Ägyptischen Verteidigung nicht bis ins Kernland vordringen konnten), wie Edomiter, Moabiter, Ammoniter. Die Geschichte der Bibel teilt eindeutig mit, dass die Edomiten, Moabiten und Ammoniten auf dem Land östlich und südlich des Toten Meeres fest verwurzelt waren. (Es trifft zwar zu, dass die Briefe in Tell el Amarna die Eindringlinge als "Khabiri", also "Hebräer" bezeichnen. Die Menschen in Edom, Moab und Ammon waren allerdings genau sowie die Israeliten Hebräer.)
Diese frühen Eindringlinge waren den Israeliten nahe verbunden und es gut möglich, dass einige der Stämme, die später in den israelitischen Bund aufgenommen werden sollten, bereits jetzt Kanaan angriffen und Stämme aus Ägypten sich ihnen anschlossen. Es gibt die Behaupung, dass nur die Stämme Josefs, Ephraim und Manasse, in Ägypten versklavt wurden, und dass sie nachdem sie Ägypten verlassen hatten, sich einem Bund von Stämmen anschlossen, die Kanaan aus der Wüste heraus angriffen.
Andererseits, wenn die Israeliten aus Ägypten gekommen waren und Kanaan während der Zeit Echnatons erobert hätten, dann wären sie von den gewaltigen Kriegszügen des Ramses II erwischt worden, die noch erfolgen sollten. Die Bibel würde nicht über eine so mächtige Schlacht als die von Kadesch schweigen können.
Es muss also später gewesen sein. Der Pharao der Unterdrückung kann sehr wohl Ramses II gewesen sein. Warum nicht? Ramses II war ein aufgeblasener Tyrann, der seine Macht sehr wohl vollkommen willkürlich ausüben könnte. Er war in einem Kampf auf Leben und Tod mit den asiatischen Mächten verwickelt und musste die Asiaten in seinem eigenen Land mit größtem Misstrauen begegnen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Hethiten eine Aufruhr der Israeliten nutzen könnten, um die ägyptische Macht zu zerstreuen, und einige Israeliten hätten ein solches Vorgehen mit Sicherheit begrüßt. Und Ramses würde ihnen sicher eine Mittäterschaft unterstellen, selbst wenn sie unschuldig wären. Eine verstärkte Versklavung und sogar Völkermord wären denkbare Folgen.
Dazu kommt, dass nach der Regierungszeit des Ramses II ein Verfall einsetzt, während dessen die Israeliten aus Ägypten haben ausbrechen können. Und der Verfall bessert sich nicht. Ägypten greift nicht nochmal Asien an und die Israeliten können durchaus Kanaan erobern ohne von Ägyptern belästigt zu werden.
Damit sieht es aus, als wäre Ramses II der Pharao der Unterdrückung gewesen, falls es einen solchen überhaupt gegeben hat. Diese Einschränkung ist notwendig, zumal es nirgendwo außerhalb der Bibel Aufzeichnungen über ihre Versklavung gibt. Es gibt überhaupt nirgendwo neuere archäologische Belege für irgend etwas, was im 2. Buch Mose berichtet wird.