Haran
Die Wohlstandszeit endete während der Jugend Abrams. Die Versandung der Tigris- und Euphrat-Mündungen bedeuteten, dass Ur nur den Erfolg im Seehandel durch harte Arbeit erhalten konnte. Die anhaltenden Streitigkeiten zwischen den sumerischen Stadtstaaten zehrten aber auf den Kräften und trug zum Untergang Urs als Handelshafen bei. Dazu kam, dass die zunehmende Macht der amoritischen Herrscher die sumerischen Städte schwer schädigte.
Es ist also kaum erstaunlich, dass die Familie Abrams keine Zukunft im weiteren Verbleib in Ur sahen und deshalb auswanderte:
1 Mose 11:31 "und sie zogen miteinander aus Ur, der Stadt der Chaldäer, und sie kamen nach Haran und wohnten dort."
Dabei folgte die Familie den normalen Handelswegen von Sumer zum Mittelmeer. Das Mittelmeer liegt 800 km westlich von Ur. Würde man allerdings nach Westen reisen, müsste man durch den nördlichen Teil der arabischen Wüste, und das wäre sehr mühsam. Man würde deshalb eher den Flüssen folgen nach Nordwest und dann nach Süd ziehen, was einem halbmondförmigen Weg entspricht, der etwa 1600 km lang ist. Der längere Weg wird aber durch die Reise durch fruchtbares Land aufgewogen, wo man überall Nahrung für Menschen und Tiere bekommen kann. Die Gegenden, die Abram durchreisten, werden normalerweise "Fruchtbarer Halbmond" genannt.
Abram und seine Familie machten in Haran Halt, am nördlichen Ende dieses Halbmondes. Sie blieben dort mehrere Jahre. Haran liegt in der heutigen Türkei unmittelbar nördlich der Grenze zu Syrien in der Nähe des Ursprungs des Flusses Balikh, der nach Süden fließt und im Euphrat mündet.
Zu Abrams Zeiten war es eine wichtige Handelsstadt und daher eine geeignete Stelle, sich niederzulassen und für eine Weile zu Ruhe zu kommen. Wie Ur war es ein Zentrum für die Anbetung des Mond-Gottes Sin.
Man hat Bedenken gegen den Ausdruck "Ur der Chaldäer" geäußert und überlegt, ob damit nicht eher das "Land der Chaldäer" gemeint sei. In dem Fall hätte Harran die Heimat der Familie Abrams sein können und nicht Ur. Durch die Anbetung von Sin soll es zu einer Verwechslung gekommen sein können.
Wäre Abram in Harran geboren worden, wäre er ein Aramäer (oder zumindest aus einem Land, das später aramäisch wurde) und kein Sumerer. Das würde besser mit der späteren Beschreibung im 5. Buch Mose passen, wo es heißt:
-> 5 Mose 26:5 "...Ein umherirrender Aramäer war mein Vater..."
Es ist auf dem ersten Blick auffällig, dass der jüngere Bruder Abrams, der früh starb, Haran hieß. Die Namen sind aber nur auf Deutsch ähnlich. Auf Hebräisch wird der Name Harran mit "Ch" geschrieben.
Dass Abram in Ur geboren sei, ist nicht nur fest in den Überlieferungen verankert, sondern ist auch reizvoll.
Ur ist eine der Stellen, wo die Ausgrabungen eine tiefe Ablagerung aufgrund einer Überschwemmung ergeben haben. Auswanderer aus Ur, von denen Abram einer der bekannten war, brachten diese Sage vielleicht nach Kanaan, wo sie in die Überlieferungen über die frühen Menschen einging. Andere sumerische Sagen, wie etwa der Garten in Eden, Kain und Abel und der Turm von Babel können auch auf diese Weise angekommen sein.
Über die Tatsache, "Abram schlief hier" hinaus gewann die Stadt aber weitere historische Bedeutung. Drei wichtige Schlachten fanden hier statt. Es war eine wichtige Festung des Assyrischen Reiches und das Reich verlor hier die letzte große Schlacht. Die Römer nannten die Stadt Carrhae. Hier wurde ein römisches Heer unter Crassus in 53 v. Chr. von den Partern geschlagen, ein großes Hindernis für die Erweiterung des Reiches. Und in 269 n. Chr. wurde der römische Kaiser Galerius dort in einer entscheidenden Schlacht geschlagen.