Euphrat
Als das erste Buch Mose seine endgültige Form erhielt, muss der Bearbeiter eingesehen haben, dass „Eden“ eine unklare Bezeichnung geworden ist, und er bemühte sich deswegen, die Ortsbestimmung zu verdeutlichen, indem er weitere Angaben machte, die damals ohne Zweifel einen Sinn ergaben, die aber heute etwas unklar geworden sind.
Er beginnt seine Festlegung durch Angabe wichtiger Flüsse, die in der Nähe zusammenlaufen:
1 Mos 2:10 Und ein Strom geht von Eden aus, den Garten zu bewässern; und von dort aus teilt er sich und wird zu vier Armen.
1 Mos 2:11 Der Name des ersten ist Pischon; der fließt um das ganze Land Hawila, wo das Gold ist;
1 Mos 2:12 und das Gold dieses Landes ist gut; dort gibt es Bedolach-Harz und den Schoham-Stein.
1 Mos 2:13 Und der Name des zweiten Flusses ist Gihon; der fließt um das ganze Land Kusch.
1 Mos 2:14 Und der Name des dritten Flusses ist Hiddekel; der fließt gegenüber von Assur. Und der vierte Fluss, das ist der Euphrat.
Die Flüsse sind nach steigender Bekanntheit beim Leser geordnet, sodass der bekannteste Fluss, Euphrat, nur erwähnt wird. Es ist nicht nötig zu erklären, durch welche Länder er fließt. Das ist verständlich, denn Euphrat war vor und während der assyrischen Zeit den Juden durchaus bekannt und Teile von ihm waren nicht weit weg. Zur Zeit des Königreichs Davids, als das jüdische Königreich am größten und machtvollsten war, lag die Grenze am oberen Euphratlauf.
Euphrat war den Assyrern als „Pu-rat-tu“ bekannt, was von einem älteren Ausdruck stammt, der einfach „großer Fluss“ bedeutet. Der hebräische Name dafür ist „Perath“, offensichtlich eine Abwandlung des assyrischen Namens. Unser Name „Euphrat“ stammt von den Griechen, die die seltsamen assyrischen Silben zu etwas änderten, das uns mehr geläufig ist.
Euphrat ist tatsächlich ein „großer Fluss“. Es ist der größte Fluss in Südwestasien, 2736 km lang. Zwei Quellflüsse entspringen in der Osttürkei, der nördliche von ihnen nur 120 km südlich vom Schwarzen Meer. Sie fließen getrennt westwärts etwa 400 km und vereinen sich dann um Euphrat zu bilden. Zunächst läuft der Fluss nach süden und kommt dabei in einen Abstand von 150 km zum Mittelmeer, läuft dann durch Syrien und dreht dann südöstlich durch Iraq und endet schließlich im Persischen Golf. Trotz der Nähe zu zwei anderen Meeren endet das Wasser am Ende im Indischen Ozean.
Es ist ein träger Fluss, von der eine beachtliche Strecke schiffbar ist. Während der Schneeschmelze der Quellgebiete im Frühling steigt der Fluss langsam an, wobei eine nützliche Überflutung entsteht. Wenn das Wasser richtig geführt, wird das angrenzende Land zu einem Garten der Fruchtbarkeit und Ergiebigkeit. Während der gesamten biblischen Zeit sind Bewässerungskanäle auf diese Weise eingesetzt worden.
Der dritte Fluss ist Hiddekel, der hebräische Name für „i-di-ik-lat“. Er fließt im ersten Buch Mose 2:14 „gegenüber von Assur“. Assur bezeichnet hier nicht das Land Assyrien, sondern die Hauptstadt. Hiddekel läuft an der Ostseite vorbei.
Hiddekel ist nicht so lang wie Euphrat, aber immerhin beachtenswerte 1900 km. Er ist unruhiger als Euphrat und meistens nicht schiffbar, außer mit kleinen Booten und Flößen. Möglicherweise gaben die Griechen ihm wegen seiner Wildheit den Namen „Tigris“ („Tiger“), der Name, den wir heute kennen.
Wenn die biblische Beschreibung heißt „teilt er sich und wird zu vier Armen“, könnte man meinen, dass Euphrat und Tigris (und die anderen zwei Flüssen) eine gemeinsame Quelle haben müssten. Das ist auch fast so. Eine der Quellen von Tigris ist ein See in der Osttürkei, der nur wenige Kilometer vom einen Quellfluss des Euphrat liegt.
Daher ist es verlockend, den Garten Eden in die Osttürkei zu verlegen. Allerdings gibt es keinen Grund zu glauben, dass die Schreiber des ersten Buch Mose die gleiche Auffassung von Erdkunde hatten als wir.
Wenn wir sagen, dass ein Fluss sich in zwei oder mehr Arme teilen, dann nehmen wir an, dass dieses in die Richtung flussabwärts geschieht. Aber was ist, wenn zwei Flüsse sich vereinen? Folgt man den Fluss flussaufwärts, dann teilt er sich in zwei Armen.
Sehen wir jetzt, wie das auf Euphrat und Tigris zutrifft. Die zwei Flüsse fließen fast parallel südostwärts. An einer Stelle, etwa 560 km vom Persischen Golf nähern sie sich bis auf einen Abstand von 72 km an einander. Danach trennen sie sich weiter, um sich weiter unten zu vereinen.
Zur Zeit der frühesten Zivilisationen, die in dieser Gegend entstanden, mündeten Euphrat und Tigris getrennt in den Persischen Golf, Tigris etwa 150 km östlich von Euphrat.
Damals ging der Persische Golf im nordosten allerdings 280 km weiter landeinwärts als heute. Die Flüsse, die südostwärts von den türkischen Bergen fließen, haben Schlamm und Schlick mitgetragen und dabei ein Delta gebildet, das jetzt das obere Ende des Persischen Golfes gefüllt hat. Dadurch ist die Küstenlinie 280 km weiter nach südosten verschoben worden.
Euphrat und Tigris mussten jetzt durch neu gebildetes Land fließen. Dabei floss Euphrat nach ost und Tigris nach süd. Schließlich kam es zu einer Vereinigung in den einzelnen Fluss, den wir heute als Shatt-al-Arab kennen, und der 193 km lang ist.
Als das erste Buch Mose geschrieben wurde, hatten Euphrat und Tigris sich bereits zu einem gemeinsamen Lauf vereint und damit muss die Teilung in Armen in 1 Mos 2:10 flussaufwärts verstanden werden. Die Lage von Eden ist deshalb der untere Lauf dieser zwei Flüsse. Tatsächlich ist die erste Zivilisation auch hier entstanden (bevor sich die Flüsse vereinten).
Übrig bleiben noch der erste und der zweite Fluss des Gartens, nämlich Pischon und Gihon. Keiner von ihnen kann ermittelt werden, obwohl man bezaubernde Vorschläge für beide gemacht hat. Der Pischon „fließt um das ganze Land Hawila, wo das Gold ist… dort gibt es Bedolach-Harz und den Schoham-Stein.“
Hawila wird als reiches Land dargestellt, wo Gold und andere teure Rohstoffe gefunden werden können. Auf der Suche nach einem sagenhaften Land voller Reichtum sind spätere Europäer auf Indien gekommen mit seinem sprichwörtlichen Reichtum. In diesem Fall wäre Pischon der lange Fluss Indus, der in Pakistan in das Arabische Meer mündet.
Was Gihon anbelangt, scheint die Beschreibung eindeutig, dass er „das ganze Land Kusch“ umfließt. Unter Kusch verstand man früher Äthiopien, ein Land südlich von Ägypten. Dort findet sich heute noch ein Land mit diesem Namen. Ein Quellfluss des Nils entspringt in Äthiopien und es scheint daher folgerichtig, dass Gihon der Nil ist.
Nach dieser Denkweise wären die vier Flüsse von Eden also Indus, Nil, Tigris und Euphrat, in der genannten Reihenfolge. Eine verblüffende Annahme. Es gibt nur zwei Zivilisationen, die es altersmäßig mit der Euphrat-Tigris-Gegend aufnehmen können, und die sind beim Nil und beim Indus.
Diese Sicht kann aber nicht richtig sein. Weder Indus noch Nil kommen auch nur in die Nähe von Euphrat und Tigris. Der kürzeste Abstand von Indus zu Euphrat und Tigris ist 1800 km und vom Nil 1500 km. Das ist unvereinbar mit der biblischen Aussage, dass sie alle vier zusammenkommen. (Man muss zwar nicht alles in der Bibel buchstäblich nehmen, doch muss man davon ausgehen, dass die Schriftsteller der Bibel wussten, ob zwei Flüsse in ihrem Teil der Welt zusammenfließen oder nicht).
Betrachten wir nun erst das Land Hawila. Wo auch immer es liegt, kann es nicht Indien sein, zumal das Wort für Indien im Buch von Ester auftritt, und auf Hebräisch „Hoddu“ heißt. Hawila wird auch an anderer Stelle genannt, zum Beispiel in 1 Mos 25:18, wo es als Teil der Gegend beschrieben wird, wo die Nachkommen von Ismael wohnen:
1 Mos 25:18 Und sie wohnten von Hawila an bis nach Schur, das vor Ägypten liegt, nach Assur hin…
Es ist ziemlich sicher, dass die Ismaeliten Stämme des arabischen Grenzgebiets waren, südöstlich von Kanaan und südwestlich von Tigris-Euphrat. Daher können wir, ohne es allzu genau auspinseln zu müssen, schließen, dass Hawila irgendwo südlich von Euphrat war.
Wenn das so ist, kann Pischon ein Nebenfluss des Euphrat gewesen sein, der in den Unterlauf gemündet hat. Er muss kein bedeutender Fluss gewesen sein, und als das ganze Gebiet langsam ausgetrocknet ist, ist er vielleicht verschwunden. (Es kann sogar ein künstlicher Kanal gewesen sein, der vom biblischen Erzähler als Fluss bezeichnet wurde).
Und was ist mit Äthiopien? Das liegt weit weg in Afrika. Das hebräische Wort, das in der King-James-Bibel mit Äthiopien übersetzt wird, ist „Kusch“. Es gibt durchaus Stellen in der Bibel, an denen Kusch sich auf Äthiopien bezieht und auch so übersetzt wird. Dieses ist aber vermutlich nicht so eine Stelle. In der deutschen Übersetzung wird Gihon beschrieben als das „land Kusch“ umfließend und es wird kein Versuch gemacht, dieses mit Äthiopien gleichzusetzen.
Am häufigsten bezeichnet das biblische Kusch einen arabischen Stamm. Es gibt eine vernünftige Wahrscheinlichkeit, dass das Wort „Kusch“ in 1 Mos 2:13 das Land eines Volkes bezeichnet, das die alten Griechen die „Kossäer“ nannten, die aber heute die „Kassiten“ genannt werden. Sie wohnten östlich des Tigris und hatten ihre Glanzzeit zwischen 1600 und 1200 v.Chr., als sie die gesamte Kultur des Euphrat-Tigris-Gebietes beherrschten.
Falls das so ist, kall Gihon ein Zufluss sein (die jetzt verschwunden sein kann) zum Tigris, der von Osten einfließt, oder sogar ein künstlicher Kanal.
Wir haben also folgende Lage: Pischon mündet in Euphrat nahe seiner ursprünglichen Mündung und Gihon mündet in Tigris nahe dessen ursprünglichen Mündung. Die zwei Doppelflüsse enden dann zusammen in dem Land, das sich nach und nach bildet. Die vier Flüsse kommen auf einem recht begrenzten Gebiet zusammen und die sehr alte Kultur, die dort entstanden ist, kann den geschichtlichen Kern der Erzählung über den Garten in Eden sein.
Im Altertum hatte dieses Gebiet einen Namen, den wir heute mit „Sumer“ wiedergeben. Auf der sumerischen Sprache bedeutet Eden „Ebene“. Niemand weiß, woher die Sumerer kamen. Falls sie aber von Osten kamen, was gut sein kann, dann haben sie womöglich das Gefühl gehabt, „nach Eden“, also „in die Ebene“ zu kommen.
Sollte die Bezeichnung „Eden“ also „Sumer“ bedeuten, kann es ein Zufall sein, dass das spätere Eden weiter stromaufwärts an Euphrat lag (auch wenn es uns die richtigen Hinweise gegeben hat).
Auf Hebräisch bedeutet Eden „Vergnügen“ und „Genuss“, was passend für so einen Garten sein kann. Das ist aber höchst wahrscheinlich nur ein Zufall, denn Hebräisch und Sumerisch sind in keinster Weise verwandte Sprachen. (Sumerisch ist, soweit man Weiß, überhaupt nicht mit anderen Sprachen verwandt). Dennoch hat diese zufällige Bedeutung auf Hebräisch das Gefühl einer rätselhaften Stelle ohne bestimmte Ortsangabe ermöglicht, sodass die Bedeutung einfach der „Garten der Freude“ war ohne Ortsangabe überhaupt.
Eine weitere Überlegung ist noch möglich. Um 2500 v.Chr., Jahrhunderte bevor Adam geboren wurde, hatten die Sumerer ihren Höhepunkt hinter sich. Neue Stämme vom Norden, die Akkadier, übernahmen „die Ebene“ und für die Sumerer, die jetzt ein erobertes Volk waren, brachen härtere Zeiten an. Sie müssen sich an die Tage der „Ebene“ erinnert haben. Kann die biblische Geschichte vom herrlichen Garten in Eden, die für immer verloren ist, zumindest teilweise ein Abglanz der sumerischen Sehnsucht nach einer verlorenen Vergangenheit sein?